Weihnachten ist ein Identitätsfest: „Licht“ ist die antike Metapher für
Bewusstsein. „Finsternis“ ist die Metapher für unbewusst sein.
Du bist Licht. Du bist Gott. Du bist unsterbliches Bewusstsein. In
der Finsternis der Wintersonnenwende wartet das Licht. Und das Licht
ist Dein wahres Wesen, schon immer gewesen. Für die Mystiker war
„Bildung“ weniger eine Inhaltsfrage und auch kein Leistungsanforde-
rungs-Katalog von Kompetenzen. Bei „Bildung“ geht es ihnen vorrangig
um ein Umbilden, um ein Sich-Fortbilden aus Fehlbildungen, um eine
weitgehende Umgestaltung. Der Mensch soll seinem Urbild gleichge-
staltet werden. Die Mystiker nannten dieses Bildungsziel „Theosis“ – die
„Vergöttlichung“ des Menschen.
Insofern ist der Spruch von Bischof Athanasius dem Großen aus dem
vierten Jahrhundert ein weihnachtlicher Satz: „Gott wurde Mensch, damit
wir vergöttlicht werden.“ Jesus spricht davon, dass wir „aus Wasser und
Geist“ „von neuem geboren“ werden sollen. Die Mystiker und Mystike-
rinnen sprechen von der Gottesgeburt im Menschen. Das Ursymbol für
die Gottesgeburt ist Maria, „die Gottesgebärerin“, wie die orthodoxen
Christen sie nennen. Sie ist der Mensch, der sich der Einwohnung Gottes
inne wurde und ihn hervorgebracht hat. Jeder Mönch und Mystiker will
es Maria gleich tun. „Wär Christus tausendmal in Bethlehem geboren
und nicht in Dir, so bliebst Du doch verloren“, so fasst der Mystiker An-
gelus Silesius die Weihnachtsbotschaft zusammen. Mit dieser mystischen
Kernbotschaft vom göttlichen Wesen jedes Menschen stieß die Weih-
nachtsbotschaft auf wenig Frieden. Der König Herodes der Große sah
in Jesus, dem auf Erden angekommenen göttlichen Kind, sogleich einen
Rivalen. Er ließ alle männlichen Babys kurzerhand in Bethlehem töten,
um die göttliche Entwicklungslinie der Menschen im Ansatz auszu-
rotten (Matthäus-Evangelium 2,16). Herodes und andere Herrscher mögen
keine Menschen, die ihrer eigenen Größe innewerden und andere damit
anstecken. Sie würden dann andere Gesellschaftsformen entwickeln.
Die schwangere Maria bringt die Bewusstseins-Revolution auf den
Punkt: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen“
(Lukas-Evangelium 1,52). Aus der Sicht des Weihnachtsmenschen tap-
pen die meisten Menschen bei der Frage nach ihrem wahren Wesen und
ihrem Lebenssinn noch ziemlich im Dunklen. Sie sind sich der meisten
Vorgänge in ihnen weitgehend unbewusst: was sie denken, fühlen und
aus welchen Motiven heraus sie wirklich handeln. Und kaum jemand
lehrt sie, ihr eigentliches Wesen zu entfalten.
Weihnachten ist ein Prozess des Licht-Werdens, so wie die Sonne nach
Weihnachten wieder höher und höher steigt. Das Fest des Lichtes und
des Lichtwerdens ist schon in jedem Menschen angelegt.
Der Psychologe Abraham Maslow fasst die Weihnachtsbotschaft mit
dem Satz zusammen: „Der Himmel ist in Dir“. Der „Himmel“ ist das
evolutionär in jedem Menschen angelegte Potenzial. Die „Transzendenz“,
die die mittelalterliche Kirche aus dem Menschen abspaltet, ist also nicht
jenseitig in einem anderen Äon oder einem einstigen Paradiesgarten, ei-
nem künftigen Himmelreich oder auf einem utopischen Stern („himmli-
sche Sphären“). Das „Jenseitige“ ist lediglich das von der Leitkultur Ab-
gespaltene. Es soll nach Auffassung der Mystiker wieder im Menschen
wohnen und dort entfaltet werden. „Gott“ ist das Potenzial, das in jedem
Menschen verborgen liegt. Jesus spricht vom „Schatz im Acker“, der un-
ter der Erde vergraben liegt. Jeder hat diesen Schatz. Das ist das Evange-
lium, die „gute Botschaft“.
Weihnachten initiiert eine neue Evolutionsstufe der Menschheit.
Eigentlich wäre das der Job der Kirchen, dies den Menschen spätestens an
Weihnachten zu sagen. Doch sie dienten zu lange den Herrschern und verfälschten
die Botschaft. Zu den Hütern des Weihnachtslichtes
wurden die Mystiker. Die Kernaussagen von Weihnachten aus Sicht
der Mystiker lautet: Du bist mehr, als Du glaubst. Du bist mehr, als
Du siehst. Du bist mehr, als Du weißt. Das „Heil“ ist nicht da draußen.
Jesus ist Deine Ur-Story: Du bist ein lichtvolles Wesen. Du bist – wie
er – „wahres Licht vom wahren Licht, wahrer Gott vom wahren Gott“
(Nizäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis). „Götter seid
ihr!“ (Jesus im Johannes-Evangelium 10,34). Paulus sieht in Jesus nicht
Einzig-Geborene, sondern den „Erstgeborenen von Vielen“, unseren
„Prototyp“ (protos kai teleios anthropos – Ur- und Zielmensch. Er ist
DEIN Prototyp. Und Du sollst in Serie gehen. Er stellt das Urbild des
Menschen wieder her, macht es sichtbar, bringt das in jedem Menschen
verborgene Potenzial zur vollen Anschauung.
Auch der christliche Mystiker und Meister Paisios vom Klosterberg
Athos in Griechenland (1924-1994) meinte: Das Übernatürliche ist
nicht übernatürlich. Es ist in jedem Menschen angelegt. Nur die Men-
schen im Westen haben das Verfallsstadium des Menschen zur Norm
erhoben. Daher erscheint ihnen ein voll entfalteter Mensch als transzen-
dent oder übernatürlich.
Weihnachten ist aus Sicht der Mystiker gerade kein Familienfest,
sondern ein Individuationsfest.
Es geht darum, dass der Einzelne sich ganz auf sich zurückbesinnt,
seiner selbst ganz inne wird und seinen göttlichen Urgrund (das wahre
Licht) entdeckt – und zunehmend dieses neue Selbst-Bewusstsein pflegt
und lebt. Erst dann ist der Einzelne bei sich zuhause angekommen. Die
christlichen Mönche sprechen vom „Habitare secum – bei sich zuhause
sein“ als Ziel. Es geht um den tiefen Frieden des In-sich-Ruhens. „Halt
an, wo läufst Du hin? Der Himmel ist in Dir. Suchst du Gott anderswo,
du fehlst ihn für und für.“
Der Theologe, Arzt und Mystiker Angelus Silesius (1624-1677) greift
für diesen Aphorismus auf eine Aussage Jesu zurück: „Man wird nicht sagen:
Siehe hier oder da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch
(entos hymon)“ (Lk 17,20f ).
In Nahtoderfahrungen bricht das Sich-Ausrichten auf das höchste
Potenzial spontan durch. Diese Gottesgeburt – Weihnachten – kann aber
auch mitten im Alltag geschehen, wenn wir den Druck der Fehlformen
lassen und unserem Urbild erlauben, in uns Gestalt anzunehmen.
Der Psychologe Abraham Maslow (1908-1970) untersuchte solche
spontanen Durchbrüche mitten im Alltag. Nach Maslows Forschung
handelt es sich bei mystischen Gipfelerfahrungen um menschliche We-
senserfahrungen. Sie stehen jedem Menschen offen, und jeder benötigt
sie zu seiner vollen Gesundheit und Wesensentfaltung. „Sie beschränken
sich nicht auf randständige Menschen, d.h. Mönche, Heilige oder Yogis,
Zen-Buddhisten, Orientalen oder Menschen in einem besonderen Stand
der Gnade. Gipfelerlebnisse sind nicht etwas, das im Fernen Osten vor-
kommt, an besonderen Orten oder einem speziell geschulten oder auser-
wählten Volk. Sie finden mitten im Leben statt, widerfahren alltäglichen
Menschen in alltäglichen Berufen.“
Der Zugang zu solchen Gipfelerfahrungen ist nicht an spirituelle
Übungen – wie Stille und Meditation – gebunden. Sie widerfahren –
unter bestimmten Bedingungen – Menschen im Alltag. „Der Himmel ist
überall um uns herum, steht im Prinzip immer zur Verfügung, bereit,
für ein paar Minuten betreten zu werden. Er ist überall – in der Küche,
bei der Arbeit oder auf einem Basketballplatz – überall dort, wo Voll-
kommenheit passieren kann, wo Mittel zum Zweck werden oder wo ein
Job richtig gut gemacht wurde. Das Leben allseitiger Verbundenheit ist
leichter erreichbar, als jemals erträumt“.
Maslow: „Die zweite große Lektion, die ich gelernt habe, lautete, dass
dies eine natürliche, keine übernatürliche Erfahrung war, und ich gab
die Bezeichnung „mystische Erfahrungen“ auf und nannte sie „Gipfeler-
lebnisse“. Die können wissenschaftlich untersucht werden. Sie befin-
den sich innerhalb der Reichweite des menschlichen Wissens, sind keine
ewigen Geheimnisse. Sie befinden sich in der Welt, nicht außerhalb der
Welt. Nicht bloß Priester machen sie, sondern die ganze Menschheit. Sie
stellen nicht länger Gegenstände des Glaubens dar, sondern öffnen sich
der menschlichen Erforschung und des menschlichen Wissens.“
Maslow stellt heraus, dass Gipfelerfahrungen die Weltanschauungen
und den Charakter eines Menschen ändern können. „Eine klare Wahr-
nehmung zu haben, dass das Universum aus einem Stück sei und dass
man seinen Platz in ihm habe – man sei Teil von ihm, gehöre ihm an,
kann eine so tiefe und erschütternde Erfahrung sein, dass die den Charak-
ter und die Weltanschauung der betreffenden Person für immer ändert.“
Maslow spricht sogar davon, dass ein Gipfelerlebnis ein Besuch im
Himmel sei. „Ich liebe die Metapher für das Gipfelerlebnis, dass es
ein Besuch in einem persönlich definierten Himmel sei, von dem
jemand auf die Erde zurückkehre, dass er zu jeder Zeit für alle
von uns um uns herum existiere, man ihn jederzeit wenigstens für
eine kleine Weile betreten könne.“
Ein Gipfelerlebnis geht mit einer veränderten Wahrnehmung einher
(bzw. wird durch sie ermöglicht!). „Es ist die wahrste und totalste Art
der visuellen Wahrnehmung oder des Hörens oder des Fühlens. Teils
rührt es von einer besonderen Veränderung in der Haltung, die sich
am besten beschreiben lässt als eine nicht prüfende, nicht verglei-
chende, nicht wertende Erkenntnis. Das soll sagen, Figur und Grund
werden nicht scharf geschieden, es gibt eine Tendenz, dass Dinge
gleich wichtig werden, anstatt sie in eine Rangfolge von wichtig
bis unwichtig zu bringen.“ Beispielsweise betrachtet die Mutter ihr
Neugeborenes: Jedes Detail bezaubert sie. Sie erlebt eine „Art totaler,
nicht vergleichender Akzeptanz“.
Die Diastase zwischen Himmel und Welt ist aufgelöst – der Himmel
wird allgegenwärtig erfahren. „Was das „Bewusstsein der Einheit“
genannt wurde, ist oft durch Gipfelerlebnisse gegeben, etwa in dem
Sinne, dass das Heilige in und durch das spezielle Vorkommen des
Augenblicks, des Säkularen, des Weltlichen scheint.“
Besonders wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung als auch für so-
ziale Systeme und deren Weiterentwicklung (bzw. kulturbegründend) ist
Maslows Entdeckung, dass Menschen in Gipfelerfahrungen bestimmte
Werte als selbstevident erfahren: Wahrheit, Gutheit, Schönheit, Gerech-
tigkeit, Einfachheit, Mühelosigkeit, Selbstgenügsamkeit.
Das alljährlich wiederkehrende Weihnachtsfest steht symbolisch für
den Prozess der Bewusstseinsentwicklung der Menschen, die sich in
verschiedenen Ritualen, Sitten und Traditionen darstellt.
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