„Selkie Bay“ oder Der Abschied vom „idealen Ort“
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  • AutorenbildSabine Bobert

„Selkie Bay“ oder Der Abschied vom „idealen Ort“

Aktualisiert: 14. Mai 2021




Über Vorstellungen, Enttäuschungen und Wahrnehmungen Hast Du schon einmal jemanden gesehen, der etwas genau beobachten will, und der dabei gleichzeitig redet? Die Mönche schweigen, um ihre Wahrnehmung zu schulen. Sie wollen genau hinschauen. Der Gegenstand, den sie beobachten, ist noch schwieriger zu beobachten, als eine Maus in der Nacht oder ein Maulwurf unter der Erde. Die klassischen Schweiger wie Mönche wollen den Geist-in-Action ertappen. Genauer: die Fehler, die er begeht. Ihr Hauptziel ist es, den strahlend reinen Geist schauen. Und so zu werden wie er, mit ihm eins werden. Sie nennen diesen Zustand „bios angelikos“ – „engelgleiches Leben“. Hierfür wollen sie Schicht für Schicht alle Fehler tilgen, die der Alltagsgeist begeht. Statt Gott – den hypothetisch ultimativ reinsten Geist – zu betrachten, haben sich die Mönche dafür entschieden, zunächst den eigenen – ziemlich getrübten – Geist zu beobachten. Diese pragmatische Entscheidung hat sich bewährt. In den ersten Jahrhunderten gab es einen genialen Meister der Bewusstseinsschulung: Evagrius Ponticus (gestorben kurz vor 400). Evagrius gab seinen Schülern unter anderem die Anleitung: Wenn Du einen Gedanken hast, schau genau, welcher im vorangegangen war und welcher ihm folgt. Daran sieht man, wie detailliert es Evagrius mit der Beobachtung des eigenen Geistes meinte, um am Ende bei der Schau des reinen Geistes – „Gott“ – zu landen. Wer schweigt, will geistreicher werden. Letztlich geht es den christlichen Mönchen aus der Anfangszeit um nicht weniger als um die eigene Vergöttlichung – theosis – bei ihrer Liebe zum Schweigen. Wer zu viel spricht, verpasst es, den eigenen Geist in Action zu ertappen. Schweigen ist also kein Selbstzweck. Wer spricht, verbindet sich mit anderen. Wer schweigt, kann sich und den eigenen Geist selbst besser im Blick behalten. Schweigen hat viel mit Liebe zu tun: mit der Liebe zur Wahrheit. Mit der Liebe zur Reinheit. Mit der Liebe zu Details. Mit der Liebe zu sich selbst und dem höchsten Potential aller Menschen. Liebe und klarer Geist sind das Wesen jedes Menschen. Wem die Wesensschau gelingt, der wird ein Liebender. Denn das eigene Wesen ist Liebe und Wahrheit. Es ist auch Verbundensein mit allem, Ausgesöhntsein der Gegensätze, Glück. Das wahre Licht lebt in jedem Menschen. Nur die Menschen bemerken es nicht – weil sie zu wenig schweigen und sich daher kaum selbst kennen. Sie kennen oft das Fernsehprogramm und die Tagesnachrichten und Sonderangebote besser als sich selbst. Täten sie das, wären sie zärtlich und glücklich. Sie würden wahrnehmen, wie nahe sie Gott selbst sind. In jedem Moment. Wer schweigt, verliert die Lust am Urteilen, Kritisieren, Bewerten. Er verteilt keine Zensuren mehr: dem Wetter, den Menschen, der Zeit. Das ständige Bewerten macht inneren und äußeren Lärm. Und was dem Schweiger noch wichtiger ist: Er hat bemerkt: Immer wenn er etwas beurteilt hat, schaut er danach nicht mehr genau hin. Er hätte sich dann ein Bild gemacht, eine VOR-Stellung – über Dinge, Menschen, Momente. Ein „Bild“ bzw. eine „VOR-Stellung“ ist für ihn das Gegenteil von „Bildung“. Bilder erscheinen ihm dumm. Er bevorzugt den je neuen unverstellten Blick. Die direkte klare Sicht ist ihm wichtiger als Ansichten anzuhäufen – über sich, die Welt, die Dinge. Eine Ansicht, ein Standpunkt, ein Urteil verstaut Dinge oder Menschen in einer Schachtel. Die Dinge erscheinen dem Betrachter danach geordneter als sie sind, weniger lebendig als sie sind, farbloser. Und die Bestrebungen eines Urteilenden sind alles andere als zärtlich. Wer lobt oder tadelt, der will herrschen und lenken: durch seine eigenen Maßstäbe. Er nimmt nicht dankbar hin, was ihm entgegenströmt. Der Urteilende kann daher nur schwer empfangen. Er wird auf Dauer verkümmern, verarmen. Schweigen öffnet für die Fülle des Lebens. Für seine ständigen Wechsel. Für sein Chaos, seine spielerischen Überraschungen, seine Abenteuer. Schweigen endet im großen Staunen und Lieben. Nichts ist zu groß und nichts zu klein. Schweigen ist magisch. Es kann sogar erfahrene Brutalität verwandeln in Weisheit. Indem es Standpunkte verflüssigen lässt im Strom des Lebens, der selber Tod und Leben mischt. Leben und Weisheit umhüllen auch Mörder und Opfer. Alles wird dem Schweiger zum Samen, zur Nahrung für neues Leben. Wer schweigt, wird ein a-moralischer Liebhaber des Lebens. Das Leben erscheint ihm letztlich wichtiger als Standpunkte über das Leben. Wer viel denkt, der weiß viel. Wer viel schweigt, wird weise. Weisheit beruht auf der Fähigkeit, genau hinzuschauen und zugunsten detaillierterer Schau Standpunkte aufzugeben. Der Standpunkt von heute fließt mit dem Morgen fort. Dem Leben geht es um Augen-Blicke. Nichts ist ihm kostbarer als ein frischer, unverstellter Augenblick. Der Schweigende wird so zum Kind. Er misst den Augen-Blick noch nicht am Museum gestern gewonnener Urteile. Er kann so die Fülle empfangen. Wer empfängt, erlangt Nahrung, Weisheit, Kraft. Die Wolke aus Gedanken verdunkelt das Licht. Sie kann zum Gespinst werden, in dem man sich verfängt. Gedanken scheinen zu bergen, doch sie schließen auch aus. Sie tendieren, zur Höhle werden, die mit der Welt verwechselt wird. Der Ausstieg aus Wahnsinn und Enge beginnt mit dem Ausstieg aus Gedanken. Befreiung beginnt im Schweigen. Hier endet das Urteilen über richtig und falsch. Viel wichtiger ist es, Muster zu finden. Der Schweiger sieht das Schiffchen seiner Gedanken hin und her rasen und Muster weben. Wer schweigt, erkennt Verbindungen, die ihm vorher unergründlich waren. Wie ein Höhlenforscher steigt er in jeden Abgrund hinab. Was ihm vorher als Welt erschien, entpuppt sich als eigenes oder auch gesellschaftliches Gespinst. Die Welt erstrahlt erst außerhalb der Gespinster-Gespenster. Der Schweiger ist ein Geister-Jäger. Er hört auf, im Außen zu jagen. Das Außen erscheint ihm zunehmend als ein Schattentheater der inneren Gespenster. Der Zusammenhang tritt ihm zunehmend drastisch vor Augen. Außen und Innen sind zunächst eine Welt. Gibt es überhaupt eine Welt da draußen? Gedrungen von der Liebe zur Wahrheit, geht der Schweiger auf Geisterjagd im eigenen Inneren. Die Wirklichkeiten webenden Geister in ihm sind seine eigentlichen Feinde. Er stellt äußere Kämpfe zugunsten dieses Kampfes ein. Die häkelnden, spinnenden, jagenden Geister scheinen ein einziges Hauptziel zu haben: den gegenwärtigen Moment zu verhüllen. Dadurch taumelt der Mensch orientierungslos zwischen Vergangenheit, Zukunft, zwischen Phantasien und Erinnerungen hin und her. Die Wirklichkeiten webenden Geister weben am liebsten VOR-Stellungen. Vorstellungen fungieren als Sicherheiten suggerierender Wirklichkeits-Ersatz. Menschen gelten als gebildet, je mehr VOR-Stellungen, Modelle, Abstraktionen sie archiviert haben. Vorstellungen sind nichts weiter als ein Vorhang, den Du als wichtiger empfindest als die Wirklichkeit. Mit Hilfe von Vorstellungen beurteilen ihre Besitzer alles, was ihnen widerfährt. Sie kritisieren das Wirkliche anhand ihrer Kriterien. Vorstellungen lassen das wirkliche Leben als ent-täuschend erscheinen. Denn es verläuft anders als die Vorstellungen es erwarten ließen. Du könntest es aber genau anders herum versuchen: Wirft die Vorstellungen auf den Haufen. Nimm wahr, dass es anders läuft als erwartet. Und studiere das Leben. Für das Leben benötigst Du gar keine Vorstellungen. Sondern eine geschulte „WAHR-Nehmung“. Mit ihrer Hilfe nimmst Du die Wahrheit in Dich auf. Du bist dann bereit, sie zu empfangen. Du wirst auf diesem Weg das Denken nicht aufgeben. An die Stelle von Vor-Stellungen – mit all ihren Urteilen, Kriterien – tritt an die erste Stelle die Wahr-Nehmung und an die zweite Stelle NACH-Denken. Um wahrzunehmen, musst Du lediglich still werden. Die Vorstellungen – das Gedankenkarussell – lärmt vielleicht noch in Dir. Aber es wird zum Hintergrundgeräusch. Suche einen Platz auf, am besten in der Natur. Es muss kein idealer Platz sein, der Deiner Vorstellung „Idealer Platz“ genügt. Für mich ist es meine kleine Hausbucht. Von der Kategorie „Idealer Ort“ ist sie weit entfernt. Sie ist eine bescheidene Bucht am Meer. Sie liegt am Rande eines geteerten Geländes eines ehemaligen Flughafens. Steigt man eine geteerte Schräge hinab, dann entdeckt man, dass das Meer erneut etwas Sand angespült hat. Oft verteilt es hier auch Algen und bunten Plastemüll. Unter den Wellen glitzern Ziegelreste, Asphaltbrocken, Betonbrocken. Fast täglich nehme ich mir etwas Zeit für meine Bucht. Sie ist mein Kloster. Ich liebe sie, weil sie mir Wissen – Vorstellungen – nimmt und mich Weisheit lehrt. Hierfür muss ich einfach nur sitzen und schweigen. Ich habe inzwischen aus Liebe und Dankbarkeit viele Steine und Teerbrocken aus dem Wasser geschleppt. Wenn es mir zu kalt wird, liege ich in meinem Biwaksack im Sand. Ich nehme wahr: Wind, Wellen, Sterne die leuchten, Niesel, Nebel, Schiffe und Flugzeuge. Oft hatte ich Vor-Stellungen wie: „Oh, heute wird es wieder schön! Da war gestern der orange Mond! Ich freu mich schon.“ Komme ich an, ist Nebel. Am Abend danach wieder klare Sicht. „Das kann ein schöner Abend werden!“, flüstert meine Vorstellung. Aber dann parkt der Riesenfrachter, den ich eben noch fröhlich größer werden sah, vor meiner Nase mit donnernden Ankerketten. Der Meeresboden bebt bis unter meinem Körper von den laufenden Maschinen. Seine Lichter leuchten in der Nacht. Was lehrt mich „Selkie Bay“, wie ich sie taufte? Sie entspricht nicht meinen Erwartungen, Vorstellungen. Sie ist – gegenüber der „idealen Bucht“ mit Fernseh-Wert total ent-täuschend. „Nichts im Leben wird sein, wie Du es Dir VOR-stellst. Bzw. im seltensten Falle.“ Dein Partner ist anders. Deine Kinder entscheiden und handeln anders. Das Leben bringt Dir nichts als Ent-Täuschungen? Nur, solange Du VOR-Stellungen hast. Nimm einen Quadratmeter „MEER“ eine Zeit lang wahr. Er ist nie derselbe. Mal treibt eine Alge darin. Mal entdeckst Du einen kleinen Fisch. Die kleine rote Stein, die Du dort gestern gesehen hast, ist heute von Sand überspült. Mal schäumt Wasser. Dann ist es spiegelglatt. Du siehst nie dasselbe Wasser und denselben Inhalt.

Es gibt nicht „DAS MEER“. „Das Meer“ gibt es nur in Deiner Vorstellung. Deine Vorstellung ist viel zu eng für die weite, lebendige Fülle. Durch Deine Vor-Stellungen wirst Du ein armer Wicht. Du kannst dem Meer oder dem Leben anhand Deiner Vorstellungen schlechte Noten erteilen, als Strafe für unerwartetes Verhalten.

Du kannst aber auch den Weg der Wahr-Nehmung und des Schweigens einschlagen. Verzichte auf Deine Vorstellungen. Lass sie weiter lärmen, aber hafte nicht mehr an ihnen. Hör auf, ihr Häftling zu bleiben. Nimm das Leben in seiner Wirklichkeit ernster als Deine Vorstellungen, Erwartungen, Kriterien. Du erhältst dafür eine unerwartete Fülle. das LEBEN. Was willst Du mehr?


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